Stalins Terror kostete eine ganze Armee das Leben
Dass die Rote Armee 1941 unter dem Druck der Wehrmacht nicht zusammenbrach, hatte nur sehr bedingt etwas mit "Sowjetpatriotismus" und dem "Gefühl der hohen Verantwortung … für die ihr anvertraute Aufgabe der Verteidigung der sozialistischen Heimat" zu tun. Schon wenige Wochen nach Beginn des deutschen Angriffs mussten Stalin und seine Kollegen erkennen, dass die Erziehung der Soldaten zu "sozialistischen Helden" gescheitert war.
Zu groß war die Zahl der Überläufer, Deserteure, angsterfüllten Offiziere und Mannschaften, die so gar nichts mit den "grenzenlos ergebenen Kämpfern" zu tun hatten, die die politische Schulung hatte formen sollen. Gewiss, die zahllosen Beispiele von hartnäckigem Widerstand und hingebungsvoller Tapferkeit verfehlten ihre Wirkung auf die Wehrmacht nicht, die in ihren Blitzkriegen bislang selten damit konfrontiert worden war. Das machte Schule. Je weiter die deutschen Truppen vorrückten, desto stärker folgten die Soldaten der Roten Armeen einer Vaterlandsliebe, die schon gegen Napoleon I. 1812 die Truppen des Zaren angetrieben hatte. Aber das war nur das eine Motiv des Widerstands. Das andere war ein System aus Kontrolle und Terror, mit dem Stalin unbarmherzig gegen "Deserteure" und "Verräter" vorging.
Im Grunde war dieses Netz auch der Grund für den labilen Zustand der Roten Armee. Während des Großen Terrors 1936 bis 1938, mit dem Stalin seine Stellung als allmächtiger Diktator mit blutigen Säuberungen in Partei, Staat und Armee absicherte, verlor die Truppe drei von fünf Marschällen, 13 von 15 Armeekommandeuren, 57 von 85 Korpskommandeuren und 110 von 195 Divisionskommandeuren oder, auf den Punkt gebracht, neun von zehn Generälen und acht von zehn Obersten. Die Nachrücker verdankten ihren Posten vor allem blindem Gehorsam und fester Linientreue und selten ihrem militärischen Sachverstand. Entsprechend planlos und desorganisiert standen sie Hitlers erprobter Kriegsmaschinerie gegenüber.
Nachdem Stalin in seiner Rundfunkansprache vom 3. Juli 1941 an den Patriotismus seiner "Brüder und Schwestern" appelliert und eine Mobilisierung aller Wehrfähigen angekündigt hatte, ließ er kurz darauf Taten folgen. Am 17. Juli wurden sämtliche Offiziere der Roten Armee – wie während der großen Säuberungen – ihres parteipolitischen Auftrags entkleidet. Mit ihm wurden erneut politische Kommissare betraut, die mit ihrer Unterschrift sämtliche Befehle zu bestätigen hatten. Herr über diesen gigantischen Apparat, der bald 250.000 Mann zählte, wurde Lew Mechlis, Leiter der Politischen Hauptverwaltung (Purkka), der Roten Armee im Range eines Armeegenerals erster Klasse.
Lew Sacharowitsch Mechlis war so etwas wie das verkleinerte Spiegelbild seines Herrn Josef Stalin: eine fanatische, sardonische, paranoide Kreatur. Der Sohn eines jüdischen Arbeiters aus Odessa war bereits während des Bürgerkriegs zu Stalins Entourage gestoßen, wurde dessen Büroleiter und Chefredakteur der Parteizeitung "Prawda". Während der Säuberungen tat er sich persönlich als Massenmörder hervor; selbst Stalin erkannte in ihm eine "gefährliche Bestie".
Mit seinen "tollwütigen Hunden" (Nikita Chruschtschow) machte sich Mechlis umgehend daran, der Roten Armee den nötigen Kampfgeist zu verschaffen. Das Mittel dazu war Terror. Schon in seiner Rundfunkansprache hatte Stalin den "Jammerlappen, Panikmachern, Deserteuren und Verbreitern von Gerüchten" den Krieg erklärt. Was das bedeutete, stellte sein berüchtigter Befehl Nummer 270 vom August klar: Alle Soldaten, die sich ergaben oder gefangen genommen wurden, galten als "Vaterlandsverräter". Waren diese Offiziere, wurden ihre Frauen verhaftet und deportiert.
Neben Mechlis' Purkka entstand beim Geheimdienst NKWD eine "Besondere Abteilung", die unzuverlässige Elemente in der Truppe identifizieren und liquidieren sollte. Vor allem "Offiziere, politische Leiter und Rotarmisten", deren Einheiten an der Front eingekreist und vernichtet worden waren und die sich wieder bis zu den sowjetischen Linien hatten durchschlagen können, gerieten in den Fokus. Diese "Eingekreisten" wurden nicht selten mit dem Vorwurf, die Front dem Gegner geöffnet zu haben, umgehend erschossen. "Der NKWD ist ein furchtbares Organ, das jeden von uns in jedem Augenblick vernichten kann", erklärte ein sowjetischer General, der bei Uman in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten war.
Pjotr Grigorenko, der als Major am Krieg teilnahm, berichtete: "Erschossen wurden Soldaten und Offiziere, Angehörige des Nachschubs, Infanteristen, Flieger, die ihre Maschinen verloren hatten, Panzerbesatzungen, die sich wie durch ein Wunder aus ihren brennenden Panzern retten konnten, Artilleristen, die ihre für sie bereits nutzlosen Geschütze ohne Munition Hunderte Kilometer weit selbst geschleppt hatten."
Hinter der Front wurden Absperrabteilungen stationiert, die den Auftrag hatten, das Zurückweichen der Kampftruppen mit Waffengewalt zu verhindern. In den ersten zwölf Monaten des Krieges wurde an gut 150.000 Rotarmisten das Todesurteil vollstreckt, das war eine ganze Armee. Dabei schreckten Stalins Schergen auch nicht vor Verleumdungen zurück, um ihre Propagandamaschinerie zu befeuern. So wurde General Wladimir Kachalow, Oberbefehlshaber der Südwestfront, als "Verräter" diffamiert, obwohl man in Moskau ganz genau wusste, dass er an der Front gefallen war.
Es war daher kein Wunder, dass selbst kampferprobte und bis dahin erfolgreiche Generäle und Offiziere in aussichtslosen Situationen lieber ausharrten, als sich ohne einen Befehl aus Stalins Hauptquartier zurückzuziehen oder entsprechende Befehle an ihre Leute zu geben. Dies erklärt unter anderem die riesigen sowjetischen Verluste in der Kesselschlacht von Kiew, in der durchaus ein Durchbruch durch die deutschen Linien möglich gewesen wäre.
Im Machtbereich des NKWD eskalierte der Terror zu blutigen Massenmorden. Stalins Geheimdienstchef Lawrenti Beria stellte Sondereinheiten auf, um die Rote Armee von "Feiglingen" und "Defätisten" zu säubern. Sie wurden zusammen in Lagern eingepfercht oder sogleich erschossen. Unter den politischen Gefangenen, die im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts im Baltikum und in Polen unter sowjetische Herrschaft gekommen waren, richteten die Tschekisten wahre Massaker an. "Es gab kein System mehr, das dem Morden hätte Einhalt gebieten können", schreibt der britische Historiker Richard Overy.
Dass aller Terror dem Kampfgeist der Roten Armee nicht schadete, hatte einen einfachen Grund: Der Vernichtungswille, der die deutsche Kriegsführung antrieb, ließ Stalins Soldaten gar keine Wahl, als sich den Befehlen ihrer Offiziere zu unterwerfen, mochten diese auch noch so inkompetent oder selbstmörderisch sein.
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